Die syrische Revolution (Teil 5) – Aspekte alawitisch-sunnitischer Polarisierung

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In der Mitte vorne Mihrac Ural, Chef der Pro-Assad-Miliz „Liwa Iskenderun“

Seit dem Ausbruch der Unruhen in Syrien im März 2011 gilt die Küstenregion als „Bollwerk“ des Regime. Die Küstenregion ist gleichzeitig das Kerngebiet der Alawiten Syriens. Demonstrationsikonen wie die Schauspielerin Fadwa Sulaiman blieben die Ausnahme. Der vorliegende Artikel wird sich nur mit einer Auswahl an Gründen für eine Polarisierung beschäftigen und nicht mit der zivilen Opposition. Assad Klan selbst gehört zur Minderheit der Alawiten. Es werden Gründe für eine enge Bindung von Alawiten an das Regime aufgelistet und Aspekte einer sunnitisch-alawitischen Polarisierung im Verlaufe des Konflikts dargestellt. Teilweise wurde diese vom Regime bewusst geschürt.

Die hohe Bindung einer breiten Mehrheit der Alawiten an das Regime liegt unter anderem am Selbstverständnis der Alawiten, der Identität der alawitischen Jugend und einem ausgeprägten historischen Gedächtnis. Bereits in den 80er Jahren gab es eine intensive religiös motivierte Auseinandersetzung zwischen Alawiten und Sunniten. Es war die Zeit des erstarkenden politischen Islam. Damals herrschte Baschars Vater Hafiz al-Assad. Radikale Sunniten, die sich in einer Gruppe, die ebenfalls den Namen Islamische Front trug, organisierten, diffamierten den Gründer der Alawiten Abu Schu’aib ibn Nuṣair als von persischer Herkunft. Damit hat die antischiitische Rhetorik eines Zahran Alloush durchaus historische Kontinuität.

Anti-alawitische Hetze in der Vergangenheit

Der unter dem schiitisch wirkenden Pseudonym Sayyid Abd al-Husain Mahdi al-Askari schreibende Autor des anti-alawitischen Pamphlets al-Alawiyun aw an-Nusayriya bezichtigte ibn Nusayr der Übertreibung (ghuluw) und der Vergöttlichung Alis (1. Rechtmäßiger Nachfolger Muhammads nach schiitischer Lesart, nach sunnitischer Tradition 4. Rechtgeleiteter Kalif). Richtige Bezeichnung sei aber nicht Alawiya, sondern Nusayriya oder Ali ilahi (entspricht etwa „jene die Ali vergöttlichen“). Durch diese Diskreditierung als Nicht-Muslime sollten die Alawiten eine größere Angriffsfläche für Sunniten liefern. Radikale Sunniten beriefen sich damals wie heute auf ibn Taymiya und sahen die Liquidierung der Alawiten religiös gerechtfertigt. (Vgl. Voss, Gregor: „ʿAlawīya oder Nuṣairīya?” – Schiitische Machtelite und sunnitische Opposition in der Syrischen Arabischen Republik, Hamburg 1987, S. 71ff., S. 118 ff.)

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Beim Massaker in Hama kamen bis zu 30.000 Menschen ums Leben. Dieses Ereignis hat sich in das historische Gedächtnis von Sunniten und Alawiten eingebrannt; Quelle: Wikipedia

1982 kam es zu einem Massaker in der Stadt Hama, bei dem Tausende Sunniten ihr Leben verloren. Zuvor hatte die sunnitische Muslimbruderschaft dort den Aufstand gewagt und die Kontrolle übernommen. Ein Großteil der an der Niederschlagung beteiligten Militärs waren Alawiten.

Das Regime und alawitische Identität

Diese früheren Auseinandersetzungen sind für die jungen Alawiten von heute entscheidend für ihre Loyalität mit dem Regime. Die Politikwissenschaftlerin und langjährige Syrienkorrespondentin für ARD und ORF, Kristin Helberg, spricht in dem Zusammenhang von einer Identitätskrise junger Alawiten gepaart mit gezieltem Ängsteschüren von staatlicher Seite. Das kollektive Gedächtnis der alawitischen Gemeinschaft Syriens sei geprägt von Verfolgungen in der Vergangenheit, die sie bei einer Machtübernahme der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit erneut befürchteten: „Die Vergangenheit kann sich jederzeit wiederholen – das ist das Damoklesschwert, das über der alawitischen Minderheit in Syrien hängt“. (Vgl. Helberg, Kristin: Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land, Freiburg: Herder 2012, S. 65 ff.) Der ehemalige amerikanische Botschafter für Syrien, Ryan Crocker, schrieb in der New York Times im Zusammenhang mit der klar anti-alawitischen Ausrichtung eines Großteils der bewaffneten Opposition: „For the Alawites, it’s simple: we eather hang together or we hang seperately. There was never a question that the security forces would turn against the regime and thereby sign their own death warrants”.

„Khudr“, ein Alawit mit Pseudonym, schreibt für Joshua Landis auf Syria Comment, die alawitische Religion sei bereits unter Hafiz al-Assad zu einer direkt an das Regime gebundenen Identität umfunktioniert worden, indem die Gemeinschaft weitgehend ihrer religiösen Identität beraubt worden sei.

Konfessionalistische Gewalt und bewusstes Schüren der konfessionellen Polarisierung durch das Regime

Die Washington Post berichtete am 03. November 2011 von anti-alawitischen Massakern in der Stadt Homs. Als Vergeltungsaktionen sei von der Armee willkürlich in sunnitische Viertel gefeuert worden. Gemeinsam mit der Propaganda des Regimes, die Revolution sei von radikalen Sunniten initiiert worden, müssen solche Gewaltaktionen gerade im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen der 1980er Jahre eine Bindung der Alawiten an das Regime bewirken.

Ein weiterer Grund für die Identifizierung der Alawiten mit dem Regime ist die Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs unter al-Assad. Das Washingtoner Middle East Institute geht davon aus, dass zwei Drittel der Führungspersonen über dem Rang des Oberst in der Armee Alawiten sind. Ebenso seien die Sicherheitskräfte sehr alawitisch geprägt. Etwa 70 Prozent der Berufssoldaten und ein Großteil der Republikanischen Garde seien ebenso Alawiten. Die Republikanische Garde und die Eliteeinheit der 4. Division werden vom Bruder Baschars, Maher Hafiz al-Assad, kommandiert. Der Chef des Militär-Geheimdienstes, Abd al-Fatah al-Qudsiya, und der Chef des besonders brutalen Luftwaffen-Geheimdienstes, Dschamil Hasan, sind ebenfalls Alawiten.

Besonders gefürchtet sind die regierungsloyalen Schabiha-Milizen. Sie zwangen Gefangene beispielsweise „Es gibt keinen Gott außer Baschar“ zu wiederholen. (Vgl. Kristin Helberg: Brennpunkt Syrien. Einblick in ein verschlossenes Land, Freiburg: Herder 2012, S. 237.) Deren Anführer sind Baschar al-Assads Cousins Fawwaz und Mundhir al-Assad. Auf ihr Konto gehen Übergriffe auf sunnitische Zivilisten in al-Bayda’ und Baniyas am 3. Mai 2013. Vor allem das Dorf al-Bayda’ und das sunnitische Viertel Ra’s an-Naba’ in Baniyas galten seit Beginn der Revolution als sunnitisch-oppositionelle Inseln in der alawitischen und regimetreuen Küstenregion. In al-Bayda’ wurden zahlreiche Mitglieder sunnitischer Familien exekutiert. Im sunnitischen Viertel Ra’s an-Naba’ in Baniyas wurden nach Angaben christlicher Bewohner gegenüber Human Rights Watch am 4. Mai 2013 Hunderte Menschen ermordet und in Massengräbern verscharrt.

Mit diesen Säuberungen schien al-Assad aber nicht in erster Linie die Vertreibung der Sunniten im Sinn gehabt zu haben. Vielmehr wollte er die alawitische Gemeinschaft stärker an sich binden und eine dauerhafte Basis für das Regime schaffen. Mihraç Ural alias Ali Kayyali, Alawit aus der türkischen Provinz Hatay und Chef der Liwa al-Iskenderun, forderte in einem Video die „Umzingelung von Baniyas und den Beginn der Säuberung (tathir)[von Baniyas]“ und zeigt damit dessen Involvierung in die Gewalttaten des Regimes. Zahlreiche Videoauftritte auf Arabisch und Türkisch verdeutlichen dabei auch eine Vereinnahmung von türkischen Alawiten für einen Kampf für Baschar al-Assad.

Neben Mihraç Ural sitzt ein alawitischer Geistlicher. Die ethnische Säuberung mit scheinbar alawitisch-geistlicher Legitimation ist ihrerseits konfessionalistisch. Ein alawitischer Geistlicher, der stets mit dem Massaker in Verbindung gebracht wurde, war Badr ad-Din al-Ghazal. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Geistlichen in dem Video um al-Ghazal.

Der Journalist Hasan Hasan beschuldigt das Regime, mit der bewussten Präsentation eines alawitischen Würdenträgers im Zusammenhang mit Massakern an Sunniten die Absicht, konfessionelle Gräben vertiefen zu wollen und so den Zufluss alawitischer Kämpfer für das Regime sicherstellen zu können. Dies lässt die Alawiten nach Außen als religiös bedingt anti-sunnitisch und regimetreu erscheinen und schürt dadurch mehr Hass von Sunniten auf Alawiten.

Dschihadisten nutzen Polarisierung für eigene Ziele

Diese offene anti-sunnitische und scheinbar alawitisch legitimierte Gewalt und der Eintritt der Hisbollah in den Bürgerkrieg führten zu dem Vorhaben sunnitischer Dschihadisten von Ahrar asch-Scham, Dschabhat an-Nusra und ISIS den Krieg in das alawitische Kernland zu tragen. Am 4. August 2013 begannen sie die Offensive Die Nachkommen von Aischa, Mutter der Gläubigen, bei der siebzehn alawitische Dörfer überrannten und ein Massaker an der Zivilbevölkerung anrichteten. Bei dieser Offensive wurde auch der alawitische Scheich Badr ad-Din al-Ghazal von Kämpfern der dschihadistischen Harakat Scham al-Islam (dt. in etwa „Bewegung der islamischen Levante“) entführt, als Trophäe gefilmt und für das Massaker von Baniyas verantwortlich gemacht. Später wurde er von Dschabhat an Nusra hingerichtet. Hieran wird deutlich, wie sich dschihadistische Neosalafisten Rache zunutze machen wollen und die Polarisierung geradezu benötigen.

Alawitisch-sunnitische Polarisierung als Grund des Erstarkens des Dschihadismus

Zahlreiche andere Massaker durch alawitische Militärangehörige, die oftmals auf Handyvideos festgehalten worden waren und Gräueltaten durch Dschihadisten polarisierten die Revolution zu einem Konflikt, wo eine Grenze zwischen regimetreuen Alawiten und oppositionellen Sunniten verläuft. Das heißt zwar nicht, dass es weder regimekritische Alawiten noch regimetreue Sunniten gibt, gibt dem Krieg doch eine konfessionalistische Konnotation. Die Radikalisierung innerhalb der Rebellenreihen muss zwangsläufig dazu führen, dass in Syrien lebende Alawiten keine Alternative zu Assad sehen dürften, selbst wenn sie ihm eigentlich kritisch gegenüber stehen. Auf der anderen Seite werden Angehörige von durch alawitischen Schabiha Ermordeten oder Gefolterten viel leichter zu Konfessionalismus gegen Alawiten neigen. Assad hat durch Massaker mit gezielter alawitisch-geistlicher Legitimierung die Alawiten zu seinen Geiseln genommen. Genau das und der Einsatz radikal-schiitischer Milizen gegen die Aufständischen ist Wasser auf den Mühlen radikal-sunnitischer Dschihadisten.


Andere Teile der Reihe „Syrien: Wie konnte sich die Revolution radikalisieren?“

Teil 1: Der Aktivist Abdel Basit as-Sarout

Teil 2: Von der Freien Syrischen Armee zu Islamischen Front

Teil 3: Die radikal-schiitischen Milizen an der Seite Assads

Teil 4: Die Entwicklung radikal-islamistischer und neosalafistischer Rebellengruppen vor dem Aufstieg des IS

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