Die syrische Revolution (Teil 3) – Die radikal-schiitischen Milizen an der Seite Assads

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Ein wichtiger Aspekt in den einzelnen Stufen der Radikalisierung und Konfessionalisierung in Syrien und dem Irak ist der Eintritt radikal-schiitischer Kämpfer in den syrischen Bürgerkrieg. Dieser Aspekt wird bei der Betrachtung von Auslandskämpfern in Syrien und dem Aufstieg radikaler Kräfte meist übersehen. In Teil 3 der Reihe Syrien: Wie konnte sich die Revolution radikalisieren? betrachte ich daher eine Auswahl radikal-schiitischer Kampfgruppen und deren Mobilisierung für einen bewaffneten Dschihad in Syrien – an der Seite von Assad.

(Hinweis: Da zahlreiche verlinkte Youtubeaccounts nicht mehr existieren, wurden die Videos vom Autor dieses Artikels gesichert.) 

Inhalt:

1.„Labbayka ya Husain“: Radikal-schiitische Kämpfer für Assad

2. Die Iranischen Revolutionsgarden in Syrien

3. Der Eintritt der libanesischen Hisbollah in den Krieg: Die Schlacht von al-Qusair als Anfang des offen konfessionellen Konfliktes

3.1 Hasan Nasrallahs Rede zum Eintritt der Hisbollah in den syrischen Bürgerkrieg

3.2 Mutmaßliche Kriegsverbrechen der Hisbollah auf dem Schlachtfeld in Syrien

4. Liwa Aba l-Fadl al-Abbas (dt. „Abbas Brigade“)

5. Liwa Dhu l-Fiqar (Dhu l-Fiqar-Brigade)

6. Liwa Ammar ibn Yasir (Ibn Yasir-Brigade) in Aleppo

7. Mobilisierung des kollektiven Gedächtnisses der Schiiten

8. Fazit: Eintritt schiitischer Kampfgruppen als Eskalationsstufe für einen konfessionellen Konflikt


1. „Labbayka ya Husain“: Radikal-schiitische Kämpfer für Assad

Den Vorwurf, al-Assad bediene sich alawitischer und 12er-schiitischer Milizen, um einen konfessionellen Kampf gegen die Opposition zu führen, gibt es seit Beginn der Auseinandersetzungen. Selbst gedrehte Amateurfilmaufnahmen von Assad-treuen Milizen untermauern dies. In einem Gefechtsvideo (Link nicht mehr vorhanden, Video aber vom Autor gesichert), das Ende 2012 bei Youtube veröffentlicht wurde, rufen Regierungstruppen vor dem Werfen von Handgranaten „ya Ali“, was ein schiitischer Schlachtruf ist. Gruppierungen wie Dschabhat an-Nusra (al-Qaida) bemühten sich recht früh um die Rekrutierung ausländischer sunnitischer Kämpfer, die für einen bewaffneten Dschihad gegen das für sie alawitische Regime von al-Assad kämpfen wollten.

Nachdem es im Zuge der Konfessionalisierung innerhalb der Freien Syrischen Armee und der Etablierung salafistischer Milizen im ganzen Land zu Übergriffen auf Schiiten und deren Heiligtümer gekommen war, begannen viele nicht-syrische Schiiten, es als ihre Pflicht zu sehen, ihre Glaubensbrüder und Schreine in Syrien zu verteidigen. Schiitische Bewohner der syrischen Hauptstadt Damaskus berichteten immer wieder von einer bereits sehr früh einsetzenden Terrorkampagne radikalsunnitischer Milizen gegen Schiiten. Besonders im Umfeld des Schreins von Sayyida Zaynab, der Tochter des für Schiiten ersten rechtmäßigen Muhammad-Nachfolgers Ali, soll es zu konfessionell motivierten Angriffen gekommen sein. So berichtete The Telegraph von Beschädigungen am Schrein direkt zu Beginn des Jahres 2012. Danach sei es zu gezielten Hinrichtungen schiitischer Würdenträger durch sunnitische Milizen gekommen. Am 13. April 2012 hätten Bewaffnete den Gelehrten und Gebetsleiter in einer Gebetsstätte in der Nähe des Schreins, Nasir al-Alawi, exekutiert. Schiitische Anwohner seien gezielt mit dem Tode bedroht worden. Unbekannte hätten die Schiiten aufgefordert, den Schrein mitzunehmen und das Land zu verlassen. Erst dann seien viele Schiiten auf Seiten des Regimes in den Kampf gezogen. Eine besondere Loyalität habe vor den Übergriffen nicht bestanden. Tatsächlich fielen gerade in der Region von Damaskus aktive Rebellengruppen durch eine aggressiv anti-schiitische Rhetorik auf. Zahran Allouch, Chef der Dschaisch al-Islam (dt. „Armee des Islam“) und inzwischen Militärchef der stark neo-salafistisch geprägten Islamischen Front, kann hier als einer der Wortführer betrachtet werden. Seine Miliz ist vor allem in Damaskus aktiv. Zahran Allouch dämonisierte von Beginn an 12er-Schiiten und Alawiten in Propagandavideos.

Schiitische Milizionäre hissten Anfang 2013 auf dem Schrein der Sayyida Zaynab eine rote Fahne mit der Aufschrift ya Husain, die von schiitischen Kämpfern als Kriegsfahne verwendet wird. Damit symbolisierten die Milizionäre die sofortige Bereitschaft für die Schia zu kämpfen. Eine ähnliche Flagge wurde auch von der libanesischen Hisbollah in der syrischen Stadt al-Qusayr gehisst und ist ein Symbol des militanten Schiismus. Den schiitischen Fundamentalismus, der sich nach der Islamischen Revolution in den schiitischen Gebieten, auch außerhalb des Iran, formiert hatte, bezeichnete der Politikwissenschaftler Vali Nasr als „‘red‘variety“ des islamischen Fundamentalismus. (Nasr, Vali: The Shia Revival. How Conflicts within Islam Will Shape the Future, New York: Norton 2006, S. 161.)

Die Rekrutierung der schiitischen Kämpfer erfolgte zumeist im Irak im Zuge von Pilgerreisen nach Kerbela. Nach Angaben des Fachmagazins für die arabische Welt Zenith begann diese Rekrutierung bereits im Jahre 2011. Die großen Ströme der Freiwilligen dürften aber im Zuge der heftigen Kämpfe im Gebiet des Schreins von Zainab, der Schwester Husains, nach Damaskus gekommen sein. Laut Zenith fliege einmal pro Woche ein Flugzeug Pilger nach Damaskus, von denen sich viele den Brigaden anschließen, die auf der Seite al-Assads kämpfen. (Gerlach, Daniel und Fabian Wagener: Zainabs Brigaden, in: Zenith, 06/2013, Berlin: Levante 2013, S. 30 – 31.)

2. Die Iranischen Revolutionsgarden in Syrien

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Logo der Iranischen Revolutionsgarden

Die Vorwürfe, die Iranischen Revolutionsgarden seien auf Seiten Assads aktiv um die Opposition zu bekämpfen, gibt es seit Beginn der Revolution in Syrien. Im Oktober 2012 berichtete die Nachrichtenagentur Reuters von zahlreichen schiitischen Freiwilligen, die vor allem im Bezirk Sayyida Zainab in Damaskus an der Seite Assads gegen die Rebellen kämpfen würden. Die Washington Post schrieb im Februar 2013 unter Berufung auf hochrangige US-Beamte, dass der Iran mithilfe seines regionalen Verbündeten Hisbollah ein ganzes Netzwerk schiitischer Milizen aufbaue und bereits mindestens 50.000 Milizionäre aktiv unterstütze. Im September 2013 veröffentlichte die Rebellengruppe Liwa Dawud (dt. „Brigade Davids“; gemeint ist hier der biblische König David) ein erbeutetes Video, in dem der zuvor getötete Kommandeur der al-Quds-Brigade in den Iranischen Revolutionsgarden, Ismail Taqi Haidari, den Krieg in Syrien als Kampf bezeichnet, der kein Bürgerkrieg sei, sondern ein „[Kampf] zwischen Islam und Ungläubigen. Ein Krieg zwischen Gut und Böse“. Dies beweist eine konfessionalistische Interpretation der Ereignisse in Syrien seitens hochrangiger iranischer Funktionäre.

3. Der Eintritt der libanesischen Hisbollah in den Krieg: Die Schlacht von al-Qusair als Anfang des offen konfessionellen Konfliktes

Offiziell bemühte sich die Führung Hisbollah um Zurückhaltung hinsichtlich der Auseinandersetzungen in Syrien. Dies änderte sich, als Hisbollah-Chef Hasan Nasrallah am 25. Mai 2013 eine Rede hielt, in der er den offiziellen Eintritt der Miliz in den Krieg gegen die syrischen Rebellen und an der Seite der Regierungstruppen erklärte.

3.1 Hasan Nasrallahs Rede zum Eintritt der Hisbollah in den syrischen Bürgerkrieg

(Hinweis: Ursprünglicher Videolink nicht mehr vorhanden, Videomitschnitt der Rede aber vom Autor des Artikels gesichert)

Die großen Gefahren für den Libanon benennt Nasrallah mit der „permanenten Gefahr, die seit der Nakba existiert, das ist Israel. Israel mit seinen Intentionen, seiner Raffgier, seinen Projekte oder Verschwörungen […] Die zweite Gefahr sind die Veränderungen und Entwicklungen in Syrien […] das heißt in unserer Nachbarschaft, an unseren Grenzen […] an den Toren unserer Städte, Dörfer und unserer Häuser“_. Hierbei erwähnt er sogenannte „Takfiri-Gruppen“, die sich auf dem Schlachtfeld in Syrien befänden. Das arabische Wort Takfir ist ein Infinitiv des II. Stammes von kaffara, was „jemanden zum Ungläubigen erklären“ bedeutet. Damit meint Nasrallah jene Gruppen, die die Schiiten der Bid’a (Neuerung entgegen der Sunna) und des Kufr bezichtigen und damit als Apostaten und Ungläubige bezeichnen. Es sei ein Block unter Führung von Amerika, bestehend aus den Golfstaaten, der Türkei, europäischer Staaten, unterstützt durch Israel, gegen den man kämpfe. Außerdem nannte Nasrallah al-Qaida und Takfiri-Gruppen als Bestandteil dieser Achse gegen Syrien und die Hisbollah. Es könne sich dabei ausschließlich um eine Verschwörung handeln, denn „niemand kann uns davon überzeugen, dass Zehntausende Kämpfer von den Takfiris, denjenigen, die eine extremistische Ideologie haben, die alles außer ihr eigenes Denken ablehnen, niemand kann sagen, dass diese einfach so nach Syrien gekommen sind […] Zehntausende Kämpfer aus der ganzen Welt“_. Die größte Fraktion der bewaffneten Opposition bestehe inzwischen aus Takfiris,_ aus jenen, die „Menschen die Köpfe abschneiden“_. Diese Gruppen seien eine Gefahr für den Libanon, da diese vor allem in den Provinzen die Kontrolle übernähmen, die direkt an den Libanon grenzen._

Nasrallah achtete aber bewusst darauf, die eigene Involvierung nicht in schiitischem Kontext erscheinen zu lassen: „Wir sehen das als eine große Gefahr für alle Libanesen, nicht nur eine Gefahr für die Hisbollah […] Es ist nicht nur eine Gefahr für die Schia im Libanon. Es ist eine Gefahr für den Libanon […], für den Widerstand und die Koexistenz. Ich habe Beweise, die das belegen. Wenn diese Gruppen […] fähig sind, insbesondere in den Provinzen nahe der libanesischen Grenze Kontrolle zu übernehmen, dann stellen diese eine Gefahr für die Libanesen dar, seien diese nun Muslime oder Christen. Wenn ich sage Muslime, dann meine ich die Sunniten, die Drusen, die Schia und die Alawiten. Ich meine nicht nur die Schia.“_ Konkret benannte er als Takfiri-Organisation die al-Qaida-Gruppe Islamischer Staat im Irak, die sich später in Islamischer Staat im Irak und der Levante umbenannte._ Diese Gruppe habe nicht nur die Schiiten zum Ziel ihrer Attacken, sondern auch alle Sunniten, die nicht ihrer Meinung seien: „Wie viele sunnitische Geistliche wurden von dieser Gruppe getötet? […] Wie viele Moscheen wurden in al-Anbar, in Falludscha, in  Mossul […] und wo anders gebombt? Nicht nur die Moscheen der Schia[…] Diese Organisation ist stolz darauf, dass sie 4000 oder 5000 Selbstmordattentate im Irak durchgeführt hat. […]Sie glauben, jeder andere ist ein Ungläubiger […] [Sie sagen] jeder, der an Wahlen teilnimmt ist ein Ungläubiger […] wir können ihn töten. Das ist das Takfiri-Gedankengut“. Diese Ideologie habe die nordafrikanischen und auch andere muslimische Staaten erfasst und sei kurz davor Einfluss im Libanon zu nehmen. „Welche Zukunft soll Syrien angesichts eines solchen Gedankenguts haben? […] Was für eine Zukunft gibt es für den Libanon, für Paläsina, für die Menschen der Region?“, so Nasrallah weiter und forderte: „Lasst uns den Konfessionalismus beiseitelegen“. Die Vorwürfe, die Hisbollah sehe sich als Teil eines Kampfes von Schiagegen Sunna, wies Nasrallah zurück. Vielmehr betreffe die Gefahr, die von den Takfiris ausgehe alle Menschen der Region, ungeachtet ihrer Religion oder Konfession. Die Takfiris seien nur ein Instrument der Amerikaner, um das Erwachen der Menschen der Region zu unterdrücken.

Hasan  Nasrallah übernimmt in seiner Rede die Rhetorik des Asad-Regimes und macht sunnitische Extremisten für den Großteil der Grausamkeiten verantwortlich. Er stellt die Hisbollah als sich im Widerstand gegen eine Verschwörung Amerikas, seiner europäischen Vasallen, Israels und al-Qaidas befindlich dar. Die Hisbollah solle als Streitmacht gegen Konfessionalismus und als Schutzmacht aller Religionen und Konfessionen in der Region wahrgenommen werden. Die Offensive gegen al-Qusair sei ein Akt der Selbstverteidigung gewesen, nachdem Extremisten Libanesen in Dörfern in Syrien angegriffen hätten. Eine Revolution gäbe es in Syrien ohnehin nicht. Die Hisbollah schütze außerdem kulturelle Artefakte. Ḥasan Nasrallah spielte hierbei auf Gräberzerstörungen an, die man den sunnitischen Kämpfern der Opposition vorwarf: „Die Takfiris zerstören die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft“. Konfessionellen Interessen in Syrien widersprach Hasan  Nasrallah. Er betonte, dass man sowohl auf der Seite der Sunniten in Palästina als auch in Bosnien gekämpft und eigenes Blut geopfert habe: „Wir hatten dort [in Bosnien] Trainingscamps, wir haben dort gekämpft […] um die sunnitischen Muslime in Bosnien zu verteidigen. Es gab keine Schiiten in Bosnien.“ Nasrallah verwendet ausschließlich den Begriff Takfiris im Bezug auf sunnitische Extremisten, identifiziert diese aber nie als Sunniten. Auch gebrauchte er keine polemischen Begriffe wie Nawasib, mit dem Sunniten von radikalen Schiiten abgewertet werden. (Vgl. Bar, Shmuel: Sunnis and Shiites – Between Rapprochement and Conflict, in: Husain Haqqani: Current Trends in Islamist Ideology, Washington: Hudson Institute 2005, S. 88.)

Omar Dahi, Professor für Wirtschaft am Hampshire College (USA) und Mitarbeiter beim Carnegie Middle East Center in Beirut, verweist in diesem Zusammenhang auf eine konfessionalistische Kampagne gegen die Hisbollah, die in die Zeit vor der Revolution in Syrien zurückreiche. Vor allem Israel, den USA und den Golfstaaten sei die schiitische Miliz ein Dorn im Auge gewesen. Dies würde die in der Rede Nasrallah geäußerte These bestätigen, dass es einen von außen initiierten Konfessionalismus gegen Schiiten gebe.

3.2 Mutmaßliche Kriegsverbrechen der Hisbollah auf dem Schlachtfeld in Syrien

Phillip Smyth, Analyst an der University of Maryland mit Themenschwerpunkt Islamismus und Terrorismus, recherchiert zu schiitischem Dschihadismus. Auf Jihadology publizierte er eine Dokumentation der Feierlichkeiten, nach dem Sieg der Hisbollah und der Syrischen Arabischen Armee in al-Qusair. Hierzu schreibt er: „Few Photos of Hizballah fighters in Qusayr were realeased, but the video and photographic material which was made public emphasized a much more sectarian presentation of Hizballah’s fight for Syria”. Smyth untermauert diese Einschätzung mit einem Propagandavideo der Hisbollah. Veröffentlicht werden die Pro-Hisbollah-Propagandavideos durch die Internetseite Electronic Resistance.


Am 08. Juni 2013 publizierte Electronic Resistance ein Propagandavideo der Hisbollah zum Sieg über die Rebellen in al-Quṣayr. Es zeigt eine Gruppe von Hisbollah-Kämpfern, wie sie eine Flagge mit der Aufschrift ya Husain auf der schiitischen Imam al-Hasan al-Mudschtabb-Moschee hissen und die schiitische Parole „labbayk ya Husain _ (dt. „wir stehen für dich bereit, oh Husain“) rufen. In der schiitischen Geschichte, entwickelte sich, vor allem mithilfe iranischer Gelehrter, ein Märtyrerkult um den 3. Imam der Schiiten Husain. Er soll sich bei der Schlacht von Kerbela gegen die Truppen des Yazid für die Gemeinschaft der Gläubigen aufgeopfert haben. Für gläubige Schiiten kann Husain auch heute noch als Fürsprecher fungieren und damit Sünden vergeben und den Eintritt in das Paradies garantieren. (Vgl. Richard, Yann: Shi’ite Islam. Policy, Ideology, and Creed, Blackwell: Cambridge 1995, S. 31.)

An dem Verhalten der Hisbollah-Kämpfer ist deutlich zu erkennen, dass sich die Hisbollah als Schutzmacht der syrischen Schiiten versteht und den Sieg von al-Qusair als einen schiitischen Sieg interpretiert. Noch deutlicher wird diese konfessionelle Sichtweise auf die Kämpfe in Syrien anhand eines bei Electronic Resistance am 08. August 2013 veröffentlichen Videos mit dem arabischen Titel „Ali maddad“ (dt. Ali hilf uns). Der Naschid hierzu heißt ebenfalls „Ali maddad“ und wurde eigens für den Sieg in al-Qusair komponiert.

Am 08. Oktober 2013 wurde von NewLebanon.info ein Video öffentlich zugänglich gemacht, das Angehörige der Hisbollah zeigen soll, die Kriegsverbrechen verüben. Phillip Smyth verfasste zu diesem Video ausführliche Analysen. Das Video zeigt eine Gruppe von Männern, die verwundete Rebellen aus einem Auto auf den Boden wirft und die sich noch bewegenden Menschen auf dem Boden liegend brutal erschießt. Als die Kämpfer die Verwundeten aus dem Auto holen, sagen sie zweimal „fi sabil Allah“ (dt. „auf dem Pfad Gottes“), was auf eine religiöse Motivation für die Taten hindeutet. Die Kämpfer tragen Kampfanzüge, grüne Kopfbänder und gelbe Bänder an der Kleidung. Smyth wertet diese Bänder als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer schiitischen Miliz. Diese Farben werden von der libanesischen Hisbollah, aber auch von den irakischen Kata’ib Hisbollah (dt. „Hisbollah Brigaden“; irakische Hisbollah) und anderen in Syrien aktiven schiitischen Milizen verwendet. Damit deute nach Smyth alles darauf hin, dass es sich um ein Kriegsverbrechen durch Angehörige einer schiitischen Miliz handele. Außerdem sagt ein Kämpfer an einer Stelle des Videos, dass sie ihren Takflif ausführen. Taklif ist eine religiöse Pflicht, die der gläubige Muslim auszuführen hat. Smyth attestiert den Kämpfern einen libanesischen Akzent, was wiederum für die Hisbollah als Täterumfeld spräche. Das tatsächliche Handeln der Schiitenmiliz ist daher eindeutig konfessionalistisch und steht den Inhalten der Rede von Nasrallah entgegen.

4. Liwa Aba l-Fadl al-Abbas (dt. „Abbas-Brigade“)

Auch an der Namenswahl für die Brigaden erkennt man den Konfessionalismus der Kämpfer. Beispiele hierfür wären Liwa al-Hasan al-Mudschtabba, Kata’ib Sayyid asch-Schohada, Kata’ib Hisbollah, Liwa Dhu l-Fiqar oder die wohl berühmteste Miliz Liwa Abu Fadl al-Abbas (LAFA) Letztere ist eine multinationale und schiitische Kampfgruppe, die auf Seiten der syrischen Regierung kämpft. In ihren Reihen gibt es sowohl Syrer, als auch Iraker, Libanesen, Araber aus anderen Staaten und Afghanen. Die irakischen Gefolgsleute kommen ursprünglich aus der Bewegung des irakisch-schiitischen Geistlichen Muqtada as-Sadr. Eine weitere Gruppe innerhalb der Iraker stellen Flüchtlinge dar, die schon lange Zeit in Syrien leben und durch konfessionelle Spannungen in ihrer Vergangenheit geprägt wurden.

Auch der Namenspatron von LAFA, al-Abbas ibn Ali, der Sohn des für die Schiiten ersten Imams, deutet auf eine schiitische Namensgebung hin, mit Referenz auf die Schlacht von Kerbela, die für die heutigen Schiiten einem identitätsstiftenden Mythos gleichkommt. Nach traditioneller Überlieferung war Abbas, der Halbbruder des Imam Husain, bei der Schlacht von Kerbela zugegen. Aufopferungsvoll soll er in glühender Hitze seinen bedrängten Gefährten Wasser beschafft haben. Dabei seien ihm von den Truppen Yazids beide Arme abgeschlagen worden. Unter den Bedrängten befand sich auch Zaynab, die Schwester Ḥusayns. Abu l-Fadl al-Abbas wurde als einer der ersten von Yazids Truppen brutal getötet. Yazids Kämpfer entführten Zaynab zunächst nach Kufa und danach nach Damaskus. Später wurde sie nach Medina entlassen. Ihr Schrein befindet sich noch heute im gleichnamigen Damaszener Vorort Sayyida Zaynab. (Ausführlicher zu Schiiten: Vgl. Halm, Heinz: Die Schiiten, München: Beck 2005, S. 21.)

Die Ausrufe „labbayk ya Zaynab“ (dt. „wir stehen für dich bereit oh Zaynab“), „labbayk ya Husain“ (dt. „wir stehen für dich bereit oh Husain“) und „ya Ali“ (dt. oh Ali“) sind schiitisch konnotiert. Vor allem labbayk ya Zaynab ist inzwischen zu einem Schlachtruf schiitischer Islamisten in Syrien avanciert. Führende Kämpfer der Miliz wurden bei schiitischen Trauerzeremonien im Inneren des Geländes des Schreins von Sayyida Zaynab in Damaskus gefilmt, wo sie sich nach schiitischer Manier auf die Brust schlagen. Das Brustschlagen gehört zu den ältesten Muharram-Riten.

LAFA sympathisiert offen mit der libanesischen Schiitenmiliz Hisbollah. Auch bezieht LAFA den Nachschub aus dem schiitischen Gottesstaat Iran, der radikal-schiitischen und offen anti-sunnitischen Asa’ib Ahl al-Ḥaqq (dt. „Liga der Angehörigen der Wahrheit“) aus dem Irak und der ebenfalls irakischen und durch den Iran unterstützten Kata’ib Hisbollah.

Auch die Ähnlichkeit der benutzten Symbole der unterschiedlichen Kampfgruppen lässt auf einen gemeinsamen Hintergrund schließen. Die Logos von Liwa Abu l-Fadl al-Abbas, Hisbollah, Asa’ib Ahl al-Ḥaqq und der Kata’ib Hisbollah ähneln dem der Iranischen Revolutionsgarden mit einer nach oben gestreckten Faust, die eine AK 47 umfasst. Somit ist es ziemlich sicher, dass diese Kampfgruppen mit maßgeblicher Hilfe aus Iran nach dem Vorbild der Revolutionsgarden und der libanesischen Hisbollah aufgebaut wurden und werden.

In Propagandavideos werden die Kämpfer der LAFA als Mudschahidun (dt. hier „Kämpfer des bewaffneten Dschihad“) gepriesen. Auch die Anhänger der Miliz weisen eine deutlich schiitische Referenz auf. Propagandavideos von Kämpfen der Brigade werden mit schiitischen Kampfliedern hinterlegt und es werden bewusst Kampfszenen mit dem Schlachtruf „ya Ali“ gezeigt.

Der irakisch-schiitische Munschid (dt. „Sänger von Lobpreisungen und religiösen Liedern“), Haidar al-Attar dichtete Lobeshymnen auf schiitische Gotteskrieger in Syrien. In einem Latmiya (schiitisches Klagelied), besingt er schiitische Kämpfer in Aleppo, die dort für al-Asad gekämpft hatten: „Feuer brannte in Aleppo/ […] Die Wiederkehr des Mahdi (Anm. messianische Geilsgestalt) naht/ Wer zu ihm gehört/ Muss im Krieg bis zum Ende bleiben“_. Erkennbar wird ein schiitischer Messianismus, da der Kampf in Syrien mit einer Art Endkampf in Verbindung gebracht wird, an dessen Ende die Wiederkehr des entrückten 12. Imams steht. Die Schiiten, Kämpfer und Gläubige, bezeichnete al-Attar kollektiv angelehnt an Sayyida Zaynab als „Zaynabiyun“. Im Naschid (oft auch Nasheed; dt. „religiöser Gesang“) Ihnahu Liwa l-Abbas (dt. „wir sind die Abbas-Brigade“) preist al-Attar LAFA in schiitischem Kontext. Der Refrain des Lobgesangs lautet „die Schiat Ali (die Schiiten) hat ihr Haupt erhoben [im Sinne von stolz sein], wir sind die Abbas-Brigade“. Haidar al-Attar singt vor Männern, die sich im Takt in schiitischer Tradition auf die Brust schlagen. Immer wieder rufen sie „Ali“.

 

5. Liwa Dhu l-Fiqar (Dhu l-Fiqar Brigade)

Eine weitere schiitische Miliz ist Liqa Dhu l-Fiqar. Dhu l-Fiqar war der Überlieferung nach das Schwert des Propheten Muḥammad. Nach seinem Tod soll es in den Besitz des Kalifen Ali übergegangen sein. Mit der Zeit entwickelte es sich zu einem Symbol der ʿAlīden._ Außerdem ist es teilweise ein Symbol für den Mahdi (messianische Gestalt) oder den Jüngsten Tag. Daher ist die Benennung der Brigade nach dem Schwert Muḥammads beziehungsweise Alis eindeutig schiitisch, ebenso wie die Symbolik im Gruppenlogo bestehend aus zwei gekreuzten Dhu l-Fiqar-Schwertern vor der Kuppel des Schreins von Sayyida Zaynab.

Nach einer Analyse der Plattform Jihadology, stammt ein Teil des Personals aus der anderen großen Schiitenmiliz Liwa Abu l-Fadl al-Abba. Phillip Smyth vermutet, dass Liwa Dhu l-Fiqar aus internen Streitigkeiten zwischen syrischen und irakischen Kämpfern hervorgegangen ist. Am 19. Juni 2013 berichtete Reuters von einem Gefecht im Bereich Sayyida Zaynab, wobei zwei irakisch-schiitische Milizionäre und drei syrische Schabiha (assadtreue Milizen) getötet worden seien. Diese Vorfälle verdeutlichen die inzwischen militärische Abhängigkeit des Regimes von solchen schiitischen Milizen, wenn es über derartige interne Kämpfe hinwegsieht, und dass militärische Erfolge nur mit Milizen zu erreichen sind, die konfessionalistisch agieren.

6. Liwa Ammar ibn Yasir (Ibn Yasir-Brigade) in Aleppo

Liwa Abu l-Fadl al-Abbas und Liwa Dhu l-Fiqar haben sich stets als rein defensiv und in Damaskus operierende Brigaden verstanden. Es gibt aber auch schiitische Freiwilligenmilizen, die außerhalb der Haupstadt Damaskus operieren. Liwa Ammar ibn Yasir wird vor allem in der Wirtschaftsmetropole Aleppo eingesetzt. Ihre Kämpfer stammen aus dem Irak. Die Brigade erklärte ihre Gründung Ende Mai 2013. Auch ihr Name ist religiöser Natur. Ammar ibn Yasir war Gefährte von Muhammad und später Alis. Nach der Kamelschlacht 656 n. Chr. führte Ammar ibn Yasir die Witwe von Muhammad, Aischa, in Gefangenschaft. Aischa wird von Sunniten als „Mutter der Gläubigen“ verehrt, weswegen der Brigadename für Sunniten eine Provokation darstellen muss.

Ideologisch verortet sich die Brigade selbst bei Ayatollah Chomeini und ist ein Teil der irakischen radikal-schiitischen Bewegung Harakat an-Nudschaba. Der Begriff an-Nudschaba steht hierbei in religiösem Zusammenhang zum Mahdi, der nach schiitischen Vorstellungen zurückkehren wird, um ein Reich der Gerechtigkeit auf Erden zu errichten._ Auf Märtyrerplakaten bezeichnet sich die Gruppe als Harakat Hisbollah an-Nudschaba und benutzt, wie auch die libanesische Hisbollah und irakische Schiitenmilizen mit iranischer Unterstützung, den Titel al-Muqawama al-Islamiya (dt. „der islamischerWiderstand“).

7. Mobilisierung des kollektiven Gedächtnisses der Schiiten

Es gibt nun auch von schiitischer Seite eine immer stärker werdende Legitimierung zum bewaffneten Dschihad gegen die Freie Syrische Armee und ihre Verbündeten. Mit Hilfe von Propagandavideos und Lobgesängen wird versucht, den Kampf der Schiiten in Syrien in das kollektive Bewusstsein der Schiiten weltweit implementieren. Somit stellt dies einen bewussten Konfessionalismus von schiitischer Seite dar.

Die Mobilisierung geht auch weit über die arabische Welt hinaus. Nicht-arabische Lobsänger, wie zum Beispiel der Pakistaner Mir Hasan Mir, singen von dem „Hilferuf vom Schrein der Zaynab“. Er zieht historische Parallelen zu Kerbela, denn die Ahl al-Bayt seien heute wieder eingekreist und müssten sich daher verteidigen._ Der Kampf in Syrien wird so zu einem neuen Kerbela stilisiert, bei dem die Schiiten historische Fehler nicht wiederholen dürften. Der Nachrichtensender al-Manar der Hisbollah zitierte schiitische Pilger mit den Worten „you‘ll never be taken away again“. Mobilisierungsvideos für freiwillige schiitische Kämpfer zeigen, wie der Syrien-Konflikt nach und nach von einem innersyrischen Konflikt zum neuen großen transnationalen Kampf zwischen zwei islamischen Konfessionen geworden ist.

8. Fazit: Eintritt schiitischer Kampfgruppen als Eskalationsstufe für einen konfessionellen Konflikt

Shia GroupsSo wie die Schlacht von Aleppo Mitte 2012 der Türöffner für sunnitisch-dschihadistische Kämpfer im syrischen Bürgerkrieg darstellte, wurde die Schlacht von al-Qusair Mitte 2013 zum Türöffner für Hisbollah und schiitische Dschihadisten an der Seite Assads. Das bewusste Zurückgreifen des Assad-Regimes auf teils radikale schiitische Milizen gegen die sunnitisch dominierte Aufstandsbewegung muss zwangsläufig zu einer Verschärfung der Polarisierung geführt haben. Insbesondere für neo-salafistische Prediger und Agitatoren bieten die konfessionalistisch motivierten Verbrechen schiitischer Milizen das Paradebeispiel für das Argument, es handele sich um einen schiitischen Krieg gegen die Sunniten. Insbesondere Gruppen wie al-Qaida und später dem IS konnte es so viel leichter fallen als Schutzmacht der sunnitischen Bevölkerung aufzutreten. Seit Mitte 2014 hat sich die Anzahl schiitischer Kämpfer in Syrien wieder dramatisch erhöht. Die oben aufgeführten Gruppen waren nur eine Auswahl einer Vielzahl. Mit dem Einsatz sehr ideologisch und brutal operierender radikal-schiitischer Milizen hat das Assad-Regime eine konfessionalistische Polarisierung und ein Abgleiten des Aufstandes in einen Krieg mit religiös-konfessionellen Zielen nicht nur bewusst in Kauf genommen, sondern aktiv befeuert. Dieser Punkt wird bei der Analyse der Gewalteskalationen, insbesondere beim Aufstieg der Terrorgruppe IS, geflissentlich übersehen.


Die vorhergehenden Teile der Reihe „Syrien: Wie konnte sich die Revolution radikalisieren?“

Teil 1: Der Aktivist Abdel Basit as-Sarout

Teil 2: Von der Freien Syrischen Armee zur Islamischen Front

 

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